Führen in der Krise
Ein ganzheitliches Handlungskonzept stabilisiert Unternehmen in der Covid-19-Krise
Es gibt einen alten chinesischen Fluch, der lautet: „Mögest du in interessanten Zeiten leben“. Was dieser Fluch uns lehrt ist, dass es zum einen uninteressante Zeiten gibt, nämlich Zeiten, die kaum von einschneidenden Ereignissen zerrüttet werden, und dass es sehr viel bequemer ist, in solchen Zeiten zu leben. Denn zum anderen gibt es die „interessanten Zeiten“, das sind die Zeiten, die von nachhaltigen Disruptionen geprägt sind. Diese Zeiten machen uns das Leben, salopp gesagt, schwer. Ob wir es wollen oder nicht, wir leben gerade in interessanten Zeiten.
Zwar ist die Rede von ‚disruptiven Veränderungen’ schon seit längerem in aller Munde, allerdings erscheint, angesichts der Covid-19-Krise, das letzte Jahrzehnt eher ‚uninteressant’. Und dass trotz den Nachwehen der Finanzkrise, der stetig voranschreitenden Digitalisierung und Globalisierung, wachsendem Konkurrenzdruck der Branchen, politischen Krisenherden etc. Die Pandemie durch Covid-19 stellt ein disruptives Ereignis von historischen Ausmaßen dar. Als solches zeichnet es sich dadurch aus, dass es unvorhergesehen auftrat, an den Grundpfeilern nicht nur unserer, sondern sogar weltweiter gesellschaftlicher, politischer und unternehmerischer ‚Normalität‘ rüttelt und diese höchstwahrscheinlich sehr langfristig auf noch nicht absehbare Weise verschieben wird.
Disruptive Ereignisse wie die Covid-19 Pandemie bergen die Gefahr, Volkswirtschaften und Unternehmen in eine Krise zu stürzen. Das ist Grund zur Sorge, nicht aber zur Weltuntergangsstimmung. Das altgriechische Wort „krisis“ von dem sich unsere „Krise“ ableitet, bedeutet schließlich wörtlich „Entscheidungspunkt“ oder „Wendepunkt“. Eine Krise zu durchleben meint also, am entscheidenden Punkt eines Prozesses angelangt zu sein, an dem sich der weitere Verlauf dieses Prozesses bestimmen wird. So gesehen ist also eine Krise vor allem eins: ein Handlungsaufruf!
Um diesem Handlungsaufruf Folge zu leisten, braucht es stringente, kohärente und gute Führung. In der amerikanischen Managementtheorie arbeiten deshalb viele Autoren traditionell mit der Unterscheidung zwischen „Management“ und „Leadership“. Diese Unterscheidung ist im deutschsprachigen Raum weniger geläufig. Trotzdem ist sie in diesem Kontext sehr aufschlussreich.
Judith M. Bardwick unterscheidet beispielsweise zwischen Peace-Time-Management und War-Time-Leadership (vgl. Bardwick, 1997). Gerade in turbulenten Zeiten ist, so Bardwick, emotionale und strategische Führung gefragt, während man sich in ruhigeren Zeiten eher auf sachliches Management verlassen kann. Abraham Zaleznik zufolge unterscheidet sich Führung vom Management durch eine stärkere Toleranz gegenüber Unsicherheit (vgl. Zaleznik, 2004). Auch wenn die anglo-amerikanische Unterscheidung zwischen Management und Führung in Deutschland kaum verbreitet ist, kann man doch einen wichtigen Punkt aus diesen Ansätzen lernen: In disruptiven Zeiten ist es wichtiger denn je, über die konkrete kurzfristige Lösung tagesaktueller Probleme, die amerikanische Autoren als Management bezeichnen, hinauszugehen.
Es braucht eine klare Führung, die langfristige strategische Ziele definiert und verfolgt, anstatt ausschließlich kurzfristig Feuer zu löschen. Führungskräfte müssen sich nicht nur die Frage stellen, welche Krisenmanagement-Instrumente aktuell Abhilfe schaffen können. Sie sollten sich darüber hinaus auch fragen, welche Instrumente gleichzeitig in zukünftige längerfristig wirkende Ressourcen verwandelt werden können. Für Entwicklung und Implementierung braucht es situative Führung mit der Betonung eines stringenten und kontrollierten Führungsstils auf der Basis von Information und Kommunikation. Das gilt nicht nur auf rein sachlicher Ebene. Auf einer affektiven, emotionalen Ebene schafft diese Form von situativer Führung Orientierung, dadurch Vertrauen und Beruhigung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite muss Führung in krisenhaften Zeiten zügiges Handeln bei den Mitarbeitenden forcieren und trägt dadurch ebenfalls zur Stressregulation der Mitarbeitenden bei. Um eine solche Führung zu entwickeln, braucht es für Führungskräfte ein ganzheitliches Handlungskonzept, das auf drei Ebenen operiert: Information, Entscheidung und Umsetzung.
Der Ausgangspunkt einer soliden Führungsstrategie ist besonders in sich schnell entwickelnden krisenhaften Situationen auf der Informationsebene zu verorten. Auf dieser Ebene geht es um die Erhebung, Verifikation und Bewertung relevanter Informationen. Die Covid-19-Krise hat, verständlicherweise, zu einer medialen Monothematik und damit auch zu einer enormen Informationsflut geführt. Ob über Podcasts, Social Media oder Tageszeitungen – aktuelle Informationen zum Thema Covid-19 stürzen täglich in kaum zu bewältigenden Massen auf uns ein. Zwischen seriösen Meldungen tummeln sich dabei auch immer wieder Fake-News. Daher sollte ein zentraler Informations-Knotenpunkt eingerichtet werden. An diesem können relevante aktuelle Meldungen und Fakten gesammelt, verifiziert, strukturiert und ausgewertet werden. Da Krisenzeiten Wendezeiten sind, kann jederzeit eine entscheidende Wende eintreten und in Form einer aktuellen Nachricht kommuniziert werden. Es ist also höchste Aufmerksamkeit geboten! Aus den täglich erhobenen validen und relevanten Fakten lassen sich dann konkrete Managementempfehlungen ableiten.
Information und Bewertung müssen stets nach innen und nach außen gerichtet sein. Im Rahmen eines Lagezentrums kann ein tägliches Monitoring der internen Prozesse und auch der externen Lage erfolgen, denn die Informationen aus dem zentralen Info-Knotenpunkt fließen hier ebenfalls ein. Die Leitrubriken, an denen sich ein solches Monitoring orientieren soll, sind:
- Analysen des aktuellen Stands (extern/intern)
- Daraus abgeleitete Zukunftsprognosen (extern/intern)
- Identifikation von Feldern, die Handlungsbedarf aufweisen
- Controlling der Realisierung von Maßnahmen
Die so erhobenen und ausgewerteten Informationen können allerdings nicht ihre lenkende Wirkung entfalten, wenn sie nicht kommuniziert werden. Schon auf der rein informativen Ebene muss eine krisentaugliche Führung die Mitarbeiter auf dem Laufenden halten. Die dadurch erzeugte Transparenz baut Vertrauen auf und Distress ab. Der Vorteil einer zentralisierten Informations-, und Bewertungsstelle ist hierbei, dass die interne Krisenkommunikation mit ‚einer Stimme’ spricht. Eine solche einmütige Kommunikation wirkt Widersprüchen entgegen. Auf einer stilistisch-affektiven Ebene sollte die Krisenkommunikation dem Ernst der Lage gerecht werden und dennoch Optimismus kommunizieren. Passende Formate hierzu sind beispielweise Storyboards für Briefings, Newsletter zur aktuellen Lage oder Podcasts/Videos etc. …
Auf der Entscheidungsebene gilt es, Informationen nicht bloß zu sammeln und zu kommunizieren, sondern sie als Basis von Entscheidungsprozessen zu nutzen.
Ein bewährtes Instrument für die Entscheidungsfindung unter den komplexen Bedingungen einer Krise ist die Einberufung eines das Lagezentrum beratenden Krisenstabs. Ein solcher Krisenstab besteht aus Vertretern unterschiedlicher Bereiche, die eine jeweils spezifische Expertise vertreten. Die Aufgabe des Krisenstabs besteht darin, Führungskräften eine multiperspektivische aber aufeinander abgestimmte Beratung in der Entscheidungsfindung zu bieten. Die Covid-19-Krise zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich auf verschiedenen Ebenen entfaltet, die sich untereinander beeinflussen. So handelt es sich nicht nur um eine wirtschaftliche Krise, sondern auch um eine gesundheitliche Krise, die in ihrer spezifischen Kombination eine ganz eigene psycho-soziale Wirkung entfalten. Daher gilt es, einen Krisenstab einzuberufen, der in der Lage ist, nicht nur Managementperspektiven abzudecken, sondern bspw. auch in medizinischen, psychologischen und juristischen Belangen beratungsfähig ist.
Darüber hinaus müssen Führungskräfte in Krisenzeiten ihren Führungsstil situativ anpassen und sich auf eine prekäre Gradwanderung zwischen Flexibilität, hilfreicher Empathie und notwendiger Stringenz einlassen. Dem letzteren dieser Pole kann man gerecht werden, indem man beispielsweise klare Führungsleitplanken definiert. Für die Mitarbeiter wiederum können FAQ-Listen ausformuliert werden. So gelingt es in der Unsicherheit der Krise, klare Handlungsfelder abzustecken, wodurch wiederum kohärentes Handeln und Entscheiden ermöglicht wird. Die konzentrierte Erarbeitung und die Implementierung dieser Handlungsleitplanken haben auch einen wichtigen psychologischen Effekt: sie zeigen den Mitarbeitenden, dass die Führungskräfte trotz der unsicheren Lage die Zügel noch fest in der Hand haben.
Ein solcher Führungsstil impliziert auch eine enge und kurz getaktete Verbindung zwischen Umsetzung und Controlling. Jede Entscheidung muss ein genaues Controlling zur Umsetzung nach sich ziehen. Nur so können Fehltritte vermieden werden, die in den unsicheren Zeiten der Krise verheerende Folgen entfalten können.
Neben der sachlichen Stringenz muss auch deren Gegenpol, die Flexibilität, gefördert werden, um im ständigen Wandel innerhalb der Krisensituation handlungsfähig zu bleiben. Dazu sollte eine gewisse Toleranz gegenüber Unsicherheit gefördert werden. An dieser Stelle sollte Führungskräfte-Coaching und -Entwicklung verstärkt ansetzen. Führungskräfte werden durch gezieltes Coaching dazu befähigt, ihrer Rolle in Krisenzeiten gerecht zu werden. Durch dieses Coaching kann die Fähigkeit, situativ und flexibel auf Veränderungen zu reagieren, konstruktiv mit Stress umzugehen und sich einen notwendigen Optimismus zu bewahren, gefördert werden. Das gilt insbesondere im Angesicht einer historisch-disruptiven Krise wie der aktuellen, auf die der bisherige Alltag von Führungskräften diese nicht vorbereiten konnte.
Ist eine krisentaugliche Entscheidungsfindung gewährleistet, gilt es diese Entscheidungen mit Blick auf eine langfristige Strategie umzusetzen. Auf der Umsetzungsebene ist es daher wichtig, sich an den Wende-Charakter einer Krise zu erinnern. Krisen sind nicht nur Situationen, in denen bestimmte Probleme auftreten. Die Probleme sind als Teil eines langfristigen Prozesses zu verstehen, in dem die Krise wiederum eine entscheidende Phase darstellt. Deshalb ist es für Führungskräfte essenziell bei der Navigation durch die Krise, die von der Krise verursachten möglichen nachhaltigen Veränderungen im Blick zu halten. Zwar ist es nachvollziehbar, dass viele angesichts der Covid-19-Krise auf eine baldige Rückkehr zur Normalität hoffen. Wir sollten uns aber nichts vormachen: Normalität wird sich in manchen Punkten fundamental von der vorherigen unterscheiden. Es gibt keine Disruption der Normalität ohne ein dazugehöriges ‚New Normal’. Und genau dieses ‚New Normal‘ muss die Adaption des Geschäftsmodells immer im Auge behalten. Ein weiterer essenzieller Faktor gelungener Führung in Krisenzeiten ist also eine holistische und langfristige Strategie.
Auch eine solche Strategie will kommuniziert werden. Hier bietet sich die Ausformulierung eines Krisenmanuals an. Dieses Manual kann unter anderem Checklisten, Flow-Charts und Krisenprofile enthalten. Die Inhalte des Manuals dürfen allerdings nicht in Stein gemeißelt sein, sondern müssen kontinuierlich, mit Blick auf neue Entwicklungen, fortgeschrieben werden. So kann das Manual genutzt werden, Handlungen immer wieder auf aktuelle Entwicklungen und die übergreifende Strategie abzustimmen. Das setzt allerdings voraus, dass es ein geteiltes Commitment gibt, das Krisenmanual anzuwenden. Ein solches Commitment in der Belegschaft zu erzeugen – auch das ist Aufgabe der Führungskräfte in der Krise.
Zu guter Letzt ist anzumerken, dass sich eine Krise in unternehmerischer Hinsicht nie total, sondern immer relativ zur Resilienz von Unternehmen entfaltet. Verheerende Folgen entfaltet eine Krise nur dann, wenn ein Unternehmen nicht genügend resilient, das bedeutet anpassungsfähig, gegenüber den disruptiven Veränderungen ist, die sie mit sich bringt (vgl. Wieland, 2011). Auf der Umsetzungsebene ist daher die Kultivierung einer solchen Unternehmensresilienz von fundamentaler Bedeutung. Führungskräfte sollten ihre Strategien, Maßnahmen und Handlungen an grundlegenden Resilienzfaktoren ausrichten. Es lassen sich acht konkrete Resilienzfaktoren bestimmen (siehe hierzu Bengel & Lyssenko 2012; Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff 2015; Werner & Smith, 1982, 1992):
- Optimismus: Den Blick auf lösungsorientiertes Handeln richten
- Orientierung zum Handeln: Den Fokus auf die Umsetzung legen
- Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit: Sich der eigenen Ressourcen gewahr werden und diese benennen und aktivieren
- Selbstkontrolle: Die eigenen Verhaltensregeln und Commitments prüfen und auf rigoroses Einhalten achten
- Inanspruchnahme sozialer Unterstützung: Die schon verfügbaren Hilfsnetzwerke zügig und proaktiv nutzen sowie neue schaffen
- Vertrauen in die eigene Gestaltungs- bzw. Handlungskraft: Kreativität, Flexibilität, Ideenreichtum und Innovativität in Zeiten fördern, in denen vieles nicht mehr so geht wie gewohnt
- Persönliche Sinngebung und die ureigene Vision für die Tätigkeit: Krisen als Herausforderung für eine Zukunftsgestaltung sehen
- Machbarkeitsabgleich und Akzeptanz: Realitätscheck und Akzeptanz des Gegebenen kultivieren
Fazit
Wir leben in interessanten Zeiten, ob wir wollen oder nicht. Eine ganze Generation von Führungskräften sieht sich nun zum ersten Mal in ihrer Karriere einer wirtschaftlichen Disruption von historischen Ausmaßen gegenüber. Angesichts dessen wächst die Gefahr, in frenetischen unreflektierten Aktivismus zu verfallen und sich an den vielen Problemen, die sich nun ergeben, blind abzuarbeiten, in Schockstarre zu verfallen und den Kopf tatenlos in den Sand zu stecken oder die Krise also solche zu leugnen. Gegen diese Impulse ist Informieren, Denken, Besonnenheit und zügiges Handeln entgegenzusetzen. Tatsächlich hilfreich ist in einer solchen Situation nur ein holistisches Handlungskonzept, das die Ebenen der Information und Kommunikation, der Entscheidungsfindung und der Umsetzung gleichermaßen in sich vereint. Es liegt nun an vielen Führungskräften, sich ruhigen Blutes dieser Feuerprobe zu stellen, ihre Führungskonzepte und ihren Führungsstil auf die neue Situation auszurichten und ihr Krisenmanagement zu einem solchen kohärenten Handlungskonzept zusammenzuschnüren.